Wie haben wir Menschen unser alles-liebendes, bedingungslos selbstloses moralisches Gewissen erworben?
Wie wir unsere moralischen Instinkte erworben haben, ist eines der größten Mysterien der Biologie gewesen. Der Primatologe Richard Wrangham hat es als „Eine Frage, die seit Darwin ungelöst im Kern der Biologie gelegen ist“ (in einer Rezension von E. O. Wilsons Buch Genesis: The Deep Origin of Societies [Genesis: Der tiefe Ursprung der Gesellschaften] aus 2019; Übers. WTM Austria, 2020) beschrieben. Und Darwin selbst beschrieb es als die „besondere Schwierigkeit“ mit seinem Konzept der natürlichen Selektion (Die Abstammung des Menschen, 1871; Übers. J. V. Carus, 1871, S. 316 von 578). Der Grund für diese „Schwierigkeit“ – und das ist etwas grundlegende Biologie für dich – ist, dass Gene normalerweise nicht für bedingungslos selbstlose, völlig kooperative Merkmale selektieren können, ganz einfach deshalb, weil solche Merkmale dazu neigen, sich selbst zu eliminieren und sich daher normalerweise nicht in einer Spezies etablieren können – ich meine, „Auf jeden Fall, du kannst selbstlos sein und deine Gene für mich opfern, aber ich werde nicht selbstlos sein und meine Gene für dich opfern.“ Der Prozess natürlicher Selektion schreibt vor, dass Selbstlosigkeit angeblich immer von selbstsüchtigem Opportunismus ausgenutzt wird, wie also könnte ein derart selbstsüchtiger Prozess wie natürliche Selektion möglicherweise eine solch liebevolle Selbstlosigkeit in uns erzeugt haben?
Die Antwort ist, dass es in unseren Vorfahren durch Behüten erreicht wurde. Um zu erklären, was so bedeutsam am Behüten einer Mutter ihres Nachwuchs ist, muss ich zunächst darauf hinweisen, dass der mütterliche Instinkt einer Mutter, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern, selbstsüchtig ist, weil sie die Reproduktion ihrer Gene sicherstellt, indem sie das Überleben der Nachkommen, die ihre Gene tragen, sicherstellt. Mutterliebe ist also ein selbstsüchtiges Merkmal, was, wie ich gerade gesagt habe, genetische Merkmale normalerweise immer sein müssen, damit sie sich reproduzieren und in die nächste Generation weitergetragen werden. JEDOCH, und das ist von entscheidender Wichtigkeit, aus der Perspektive des Kleinkindes erweckt Mutterliebe den Anschein selbstlos zu sein. Aus der Perspektive des Kleinkindes, wird es bedingungslos selbstlos behandelt – die Mutter gibt ihrem Nachwuchs Nahrung, Wärme, Unterschlupf, Unterstützung und Schutz für scheinbar nichts im Gegenzug dafür. Daraus folgt, dass, wenn das Kleinkind für einen längeren Zeitraum in der Kindheit verbleibt und mit viel scheinbar altruistischer Liebe behandelt wird, es mit dieser selbstlosen Liebe indoktriniert wird und heranwächst, um sich entsprechend zu verhalten. Selbstsüchtige Mutterliebe kann also ein Kleinkind in altruistischer Selbstlosigkeit trainieren.
Wenn wir über Primaten nachdenken, die halb aufrecht sind, weil sie in Bäumen leben und von Ast zu Ast schwingen und deshalb die Arme frei haben, um ein abhängiges Kleinkind zu halten, ist es klar, dass es ihnen besonders erleichtert wird, die Mutter-Kleinkind-Beziehung zu unterstützen und zu verlängern, und somit dieses behütete, liebevolle, kooperative Verhalten zu entwickeln.
Bonobo-Mütter halten ihre Kleinkinder
Und tatsächlich sind Bonobos, die Affenspezies, die südlich des Kongo in Afrika lebt, außerordentlich matriarchalisch bzw. auf die weibliche Rolle fokussiert, und außerordentlich behütend. Ihr könnt Fotos online finden – und ich werde einige davon in das Buch mit dem Transkript sowie dem Video des Interviews inkludieren –, die zeigen, wie behütend Bonobos sind; sie zeigen Bonobo-Mütter, wie sie ihren Kleinkindern ihre hingebungsvolle und ungeteilte Aufmerksamkeit schenken!
Bonobos beim Behüten ihrer Kleinkinder
Und als Ergebnis all dieses Behütens sind Bonobos die kooperativsten und liebevollsten Primaten, was durch diese absolut erstaunlichen Zitate belegt wird, die ich dir einfach vorlesen muss.
Die Bonobo-Zoowärterin Barbara Bell schreibt: „Erwachsene Bonobos zeigen ein enormes Mitgefühl für einander…Zum Beispiel, Kitty, das älteste Weibchen, ist völlig blind und schwerhörig. Manchmal verirrt sie sich und ist verwirrt. Sie holen sie dann einfach ab und bringen sie dahin, wo sie hin muss.“ (‘The Bonobo: “Newest” apes are teaching us about ourselves’ [„Der Bonobo: ‚Neueste‘ Affen lehren uns über uns selbst“], Chicago Tribune, 11. Jun. 1998; Übers. WTM Austria 2019).
Die Primatologin Sue Savage-Rumbaugh sagt: „Das Leben der Bonobos ist auf den Nachwuchs zentriert. Im Gegensatz zu dem, was bei Schimpansen passiert, helfen alle Mitglieder der sozialen Gruppe von Bonobos bei der Kleinkindpflege und teilen ihre Nahrung mit Kleinkindern. Wenn du ein kleines Bonobo-Kind bist, kannst du nichts falsch machen…Bonobo-Weibchen und ihre Kleinkinder bilden den Kern der Gruppe.“ (Sue Savage-Rumbaugh und Roger Lewin, Kanzi: The Ape at the Brink of the Human Mind [Kanzi: Der Affe am Rande des menschlichen Verstands], S. 108 von 299; Übers. WTM Austria, 2019).
Ein Filmemacher der französischen Dokumentation Bonobos sagt: „Sie sind sicherlich die faszinierendsten Tiere auf dem Planeten. Sie sind die Tiere, die dem Menschen am ähnlichsten sind [indem sie fast 99 Prozent unseres Erbguts teilen] Einmnal wurde ich am Kopf von einem Ast getroffen, auf dem ein Bonobo war. Ich setzte mich hin und der Bonobo bemerkte, dass ich mich in einer schwierigen Situation befand und kam und nahm mich bei der Hand und strich mein Haar zurück, wie sie das so tun. Sie leben also von Mitgefühl, und das ist wirklich interessant zu erleben.“ (kurzer Begleitfilm zu der französischen Dokumentation Bonobos von 2011, Übers. WTM Austria 2019).
Und Bonobo-Forscherin Vanessa Woods gibt uns diesen Bericht aus erster Hand über die grenzenlose Fähigkeit von Bonobos zu Liebe, aus ihrem Studium der Bonobos in ihrem Zuhause im Kongobecken: „Die Liebe von Bonobos ist wie ein Laserstrahl. Sie bleiben stehen. Sie starren dich an, als hätten sie ihr ganzes Leben lang darauf gewartet, dass du in ihren Dschungel kommst. Und dann lieben sie dich mit solch hilfloser Hingabe, dass du sie zurückliebst. Du musst sie einfach zurücklieben“ (‚A moment that changed me – my husband fell in love with a bonobo‘ [„Ein Moment, der mich verändert hat – mein Mann hat sich in einen Bonobo verliebt“], The Guardian, 1. Oktober 2015; Übers. WTM Austria 2019).
Bonobos sind unsere nächsten lebenden Verwandten, wie erwähnt, teilen sie 99% unserer DNA. Also können wir sehen, dass Bonobos den perfekten Beweis dafür liefern, wie unsere fernen Affenvorfahren kooperativ und liebevoll wurden.
Hier ein anderes Bild von einer Gruppe von Bonobos, die in einer grasbewachsenen Lichtung ruhen, das perfekt der bereits zuvor erwähnten Beschreibung entspricht, die Platon darüber gegeben hat, wie das Leben für Menschen damals im „Goldenem Zeitalter“ des behüteten Zusammenseins gewesen ist. Platon sagte: „Ohne Kleider und ohne Betten lebten sie meistens im Freien; denn der Wechsel der Jahreszeiten brachte ihnen keine Beschwerde, hatten sie doch weiche Ruhestätten auf dem Gras, das üppig aus der Erde wuchs.“ Wir haben eindeutig eine perfekte instinktive Erinnerung (wenn wir uns nicht dazu entscheiden, sie zu verleugnen), wie das Leben vor dem „Sündenfall“ war, da Platon nichts von der Existenz von Bonobos wusste und dennoch genau wusste, wie unser Bonobo-ähnliches Leben vor dem „Sündenfall“ gewesen ist.
Bonobos ruhen in einer grasbewachsenen Lichtung
Nun dieses Zitat ist etwas lang, aber es ist so eine wunderbare intuitive Erinnerung an die Bonobo-ähnliche Zeit unserer Spezies, in einem Zustand frei von Entfremdung, vollkommen einfühlsam und alles liebend, dass ich es einfach vorlesen muss. Es ist vom großen russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski. Er schrieb über eine Zeit, in der: „Der Rasen leuchtete von bunten, duftenden Blumen. Kleine Vögel flogen scharenweise in der Luft umher, setzten sich mir ohne Furcht auf die Schultern und auf die Hände und schlugen mich fröhlich mit ihren allerliebsten, flatternden Flügelchen. Und endlich erblickte und erkannte ich die Menschen dieser glücklichen Erde. Sie kamen von selbst zu mir, umringten mich und küssten mich. Diese Kinder der Sonne, diese Kinder ihrer Sonne, oh wie schön waren sie! Niemals hatte ich auf unserer Erde bei Menschen solche Schönheit gesehen…Ihre Gesichter strahlten…aus den Stimmen und Worten der Menschen klang eine kindliche Freude heraus…Das war nicht die durch den Sündenfall entweihte Erde; auf ihr lebten sündlose Menschen…Sie wünschten nichts und waren in ihrer Seele ruhig; sie strebten nicht nach Erkenntnis des Lebens in der Weise, wie wir es tun; denn ihr Leben hatte bereits einen vollen Inhalt. Aber ihr Wissen war tiefer und größer als unsere Wissenschaft…aber ihr Wissen konnte ich nicht begreifen. Sie wiesen auf ihre Bäume, und ich vermochte den Grad von Liebe, mit dem sie sie betrachteten, nicht zu begreifen: Sie redeten von ihnen, als wären es ihnen ähnliche Wesen…und ich bin überzeugt, dass auch diese die Sprache der Menschen verstanden. Von der gleichen Art war auch ihr Verhältnis zur übrigen Natur, zu den Tieren, die friedlich mit ihnen zusammenlebten, sie nicht anfielen und sie liebten, da sie von der Liebe der Menschen überwunden waren…Es gab unter ihnen keine Streitigkeiten und keine Eifersucht…da alle eine einzige Familie bildeten“ (Der Traum eines lächerlichen Menschen, 1877; Übers. H. Röhl, 2017, S. 16-17 von 132).
Diese Beschreibung davon, „von der Liebe der Menschen überwunden“ zu werden, ist so wie die zuvor gegebene Beschreibung der Bonobo-Forscherin Vanessa Woods, als sie sagte, Bonobos „lieben…dich mit solch hilfloser Hingabe, dass du sie zurückliebst. Du musst sie einfach zurücklieben“. Wieder sehen wir, wie zutreffend unsere Erinnerung daran ist, wenn wir sie nicht verleugnen, wie das Leben vor dem„Sündenfall“ war.
Fjodor Dostojewski (1821–1881)
genau wie die offensichtliche Wahrheit, dass unsere Spezies einst kooperativ und liebevoll gelebt hat, war diese Wahrheit, dass wir unsere moralischen Instinkte durch Behüten erworben haben, eine unerträgliche Wahrheit, während wir nicht erklären konnten, warum wir Menschen wütend, egozentrisch und entfremdet wurden und als Resultat daraus, die Fähigkeit verloren haben, unseren Nachwuchs angemessen mit bedingungsloser Selbstlosigkeit oder Liebe zu behüten. Die Wahrheit der paradiesischen alles-liebenden und vollkommen einfühlsamen unschuldigen Vergangenheit unserer Spezies, sowie die Wahrheit, dass es Behüten war, das uns zu Menschen gemacht hat, waren beides Wahrheiten, die unmöglich zu akzeptieren waren, während wir unseren gegenwärtigen, immens korrupten menschlichen Zustand nicht wahrheitsgemäß erklären konnten, erklären warum unsere Spezies so korrupt wurde und die Fähigkeit verloren hat, unseren Nachwuchs in vollem Maße zu behüten. Wie beobachtet wurde, „Eltern würden eher zugeben, ein Axtmörder zu sein, als eine schlechte Mutter oder ein schlechter Vater“! (John Marsden, Sunday Life, The Sun-Herald, 7. Juli 2002; Übers. WTM Austria, 2019).
John Fiske (1842–1901)
Tatsächlich wurde diese ziemlich offensichtliche Erklärung des Behütens für unser moralisches Gewissen zuerst durch den amerikanischen Philosophen John Fiske in seinem Buch Outlines of Cosmic Philosophy [Umrisse der kosmischen Philosophie], das 1874 veröffentlicht wurde, hervorgebracht, nur wenige Jahre nachdem Darwin seine Theorie der natürlichen Selektion veröffentlichte. Und zu dieser Zeit, wurde die Erklärung von Fiske tatsächlich als, und ich zitiere, „weitaus wichtiger“ als „Darwins Prinzip der natürlichen Selektion“ erkannt und als „eine der schönsten Beiträge, die je zur Evolution des Menschen gemacht wurden“ (Dorothy Ross, Stanley Hall G.: The Psychologist as Prophet [Der Psychologe als Prophet], 1972, Seite 262 von 482; Übers. WTM Austria, 2020). Und Darwin selbst ging so weit, Fiske zu schreiben und zu sagen, „Ich habe noch nie in meinem Leben einen so klaren Erklärer (und somit Denker) gelesen wie Sie es sind“ (1874; Life and Letters of Charles Darwin [Leben und Briefe von Charles Darwin], Vol. 2; Übers. WTM Austria, 2019. Aber nochmals, bevor wir unseren Verlust der Fähigkeit, unseren Nachwuchs angemessen zu behüten, nicht erklären konnten, wurde diese „weitaus wichtigere“ Erkenntnis als „Darwins Prinzip der natürlichen Selektion“ sterben gelassen und sie verschwand schließlich aus dem biologischen Diskurs!
Für eine detailliertere Erklärung des Prozesses der „Liebes-Indoktrinierung“ lest FREEDOM Essay 21 auf www.humancondition.com und Kapitel 5 von FREEDOM.
„Ich erinnere mich an die erste Nacht nach der Geburt meines ersten Kindes. Wir hatten ein Zimmer für uns allein, die Atmosphäre war sanft, ruhig, die Luft angereichert durch die Blüte des Mai. Mein Sohn war der einzige, der in dieser Nacht in diesem Krankenhaus geboren wurde. Ich war so voller Ehrfurcht, als ich dieses zarte Bündel Leben im Arm hielt. Ich dachte: ‚Das Einzige, was ich von jetzt an tun muss, ist, ihn nicht zu zerbrechen, ihn (vor mir selbst) zu schützen, ihn zu lieben, er ist perfekt.‘ Zum ersten Mal ‚spürte‘ ich, welch erstaunliche Kraft Mütter besitzen – ‚wenn wir doch nur Liebe weitergeben könnten, ohne uns ablenken zu lassen, wenn wir doch nur nicht so sehr von unserem eigenen Schmerz, unseren Unsicherheiten und Pflichten, unserem Überleben, eingenommen wären – die Welt könnte so anders sein‘, dachte ich.
Der Gedanke wurde von einem in Hoffnungslosigkeit getauchten Seufzer begleitet.
Ein paar Jahre später stieß ich auf Jeremys Erklärung vom Prozess der Liebes-Indoktrinierung, der biologischen Erklärung der Liebe ... und der wahrheitsgemäßen Erklärung unseres menschlichen Zustands. Ahhhh! – das hat mich tief berührt und mir das dringend benötigte Verständnis dafür gebracht, warum diese ‚Mutter-Kind-Sache‘ so oft zu herzzerreißenden Schwierigkeiten und Erschöpfung führt. Die Erklärungen in FREEDOM haben bereits einen Eindruck bei mir hinterlassen – ich weiß, dass meine Jungs es spüren, ich spüre es, wir verbinden uns auf einer tieferen, liebevollen, einfühlsamen Ebene.
Ich wünsche ALLEN Kindern ruhige und liebevolle Mütter. Ich wünsche mir, dass so eine Zukunft möglich ist.“
Norma Alge, Klinische- und Gesundheitspsychologin & WTM Bregenz Gründerin